Kaninchen, die in Angststarre auf den zurollenden LKW blicken

Wir stehen vor dem wohl fundamentalsten Wandel der Arbeitswelt, den wir je erlebt haben. Das Zeitalter der künstlichen Intelligenz als exponentiell wachsende und omnipräsente Technologie nimmt gerade erst richtig Fahrt auf und ist mit dem Launch von ChatGPT, DALL-E und co. nun spürbar im Lebens- und Berufsalltag von uns angekommen. Die intensivsten Veränderungen stehen uns noch bevor.

AI is going to change everything how we do everything„, ist kein Geheimnis mehr. Aber zu viele Menschen verhalten sich immer noch zu träge, setzen sich zu wenig mit dieser neuen Technologie auseinander, verspüren ein widersprüchliches Gefühl aus Faszination und Sorge und verhalten sich wie ein Kaninchen in Angststarre auf der Landstraße, das auf den herandonnernden LKW blickt, der es gleich überrollen wird. Und dennoch bewegt sich das Kaninchen nicht.

Das Argument, was ich derzeit in Unternehmen am häufigsten höre, ist: „Ich habe in meinem vollgepackten Arbeitsalltag keine Zeit, mich auch noch mit künstlicher Intelligenz und anderen neuen Technologien auseinander zu setzen.“ Das ist ein nachvollziehbarer Satz, aber keine kluge Priorisierung der persönlichen Zeit. Denn eine Transformation der Arbeitswelt geht immer mit einer persönlichen Transformation der Arbeitenden einher. Wer nicht bereit für diesen persönlichen Veränderungsprozess ist, wird über kurz oder lang seine individuelle Beschäftigungsfähigkeit verlieren. Sicherheit vor Veränderung gibt es nicht; umso wichtiger wird für uns alle Sicherheit in der Veränderung. Daher ist die aktuelle Ausgabe meines Newsletter bewusst dem Thema Upskilling (Höherqualifizierung) und Reskilling (Neuqualifizierung) und der entscheidenden Frage gewidmet: „Was können wir selber für den Erhalt unserer individuellen Beschäftigungs- und kollektiven Wettbewerbsfähigkeit tun?“

Größte Produktivitätspotenziale von KI in der Automatisierung von Büro und Wissensarbeit

Anders als bei vorherigen technologischen Revolutionen am Arbeitsmarkt liegen die größten Produktivitätspotenziale von künstlicher Intelligenz nicht etwa in der Automatisierung der Produktion (dort auch, aber nicht primär!), sondern im Bereich der Automatisierung von Büro- und Wissensarbeit sowie in der Automatisierung der Arbeit von Kreativen. Statt „Blue Collar Workers“ sind diesmal als insbesondere die „White Collar Workers“ betroffen. Das unterscheidet die bevorstehende Revolution am Arbeitsmarkt von vorherigen. Gerade Tätigkeiten mit einem hohen Anteil an sich wiederholenden Aufgaben sowie Tätigkeiten im Bereich der Datenerfassung, elementarer Datenverarbeitung, Neuzusammensetzung existierender Daten und Optimierung von Datenpunkten lassen sich von automatisierten KI-Systemen effizient erledigen. Betroffen sind damit insbesondere Tätigkeiten im Bereich Buchhaltung, Steuern und Finanzen, Kommunikation, Büroassistenz, Vertragserstellung, Recherche, Programmierung, Auditierung und Übersetzungen. Auch kreative Aufgaben von Journalisten, Autoren, Fotographen und Designern können von einer KI übernommen werden. Dem Menschen bleibt die Rolle von Qualitätskontrolle und Veredlung der Ergebnisse. Eine aktuelle McKinsey-Studie geht davon aus, dass bis zum Jahr 2030 11,8 Mio. Arbeitnehmer in den USA ihren Job wechseln müssen, weil es den bisherigen Job aufgrund technologischer Entwicklungen nicht mehr geben wird. Etwa 9 Mio. Arbeitnehmer müssen sich darauf einstellen, neue berufliche Rollen in neuen Branchen zu finden. Upskilling reicht für diese Menschen nicht aus, es geht um Reskilling und damit um das Neuerlernen von Qualifikationen und die berufliche Neuorientierung, die entlang einer Karriere zunehmend normal sein wird.

Auch wenn die Zahlen für den amerikanischen Arbeitsmarkt erhoben worden sind, sind sie von der Tendenz auch für den europäischen und deutschen Arbeitsmarkt zutreffend. Auch wenn genaue Prognosen bis zum Jahr 2030 aufgrund der hohen Dynamik der technologischen Entwicklungen mit Unsicherheit behaftet sind, so gilt doch folgender Trend als gesichert: Wir werden bis Ende des Jahrzehnts weniger Leute brauchen, aber mit mehr und anderen Fähigkeiten.

Darauf müssen wir uns einstellen, ob uns diese Botschaft gefällt oder nicht.

Was in Zukunft eine resiliente Gesellschaft ausmacht

Momentan beschäftigt unsere Wirtschaft der Fachkräftemangel. Doch technologische Substitutionsmöglichkeiten und die qualitative Verschiebung von Anforderungsprofilen sowie neu entstehende Jobs sorgen dafür, dass sich in den kommenden Jahren die Spielregeln des Arbeitsmarkts erneut verändern werden. Inwieweit sich die Veränderungen positiv oder negativ für Arbeitnehmer:innen und Gesellschaft auswirken, hängt ganz maßgeblich von der individuellen und kollektiven Fähigkeit ab, das Richtige zu richtigen Zeit zu lernen und uns fortlaufend anzupassen. Kontinuierliches Up- und Reskilling wird für uns alle ein absolutes Muss, kein nice-to-have. Wenn uns dies als Gesellschaft hingegen nicht gelingt, dann laufen wir am Arbeitsmarkt in eine schizophrene Situation hinein, die wir in ihren Vorläufern jetzt schon erfahren: Nämlich eine wachsende Arbeitslosigkeit auf der einen Seite und ein wachsender Fachkräftemangel auf der anderen Seite. Eine Situation, die das Potenzial in sich trägt, eine ohnehin schon gespaltene Gesellschaft noch weiter zu spalten.

Unsere individuelle und kollektive qualifikatorische Resilienz hängt an unserer Lernfähigkeit und Anpassungsbereitschaft. Unser Bildungssystem steht hier in der Verantwortung. Und zusätzlich tragen wir alle ein hohes Maß an Selbstverantwortung, dem Lernen in unseren vollgepackten Alltagen einen Stellenwert einzuräumen. Es ist Teil unserer Aufgabenbeschreibung – gerade von uns Wissensarbeitern, denn uns betrifft dies am meisten. Lernen muss so selbstverständlich werden, wie tägliches Zähneputzen. Es darf nicht von der Agenda fallen, nur weil wir alle schrecklich „busy“ sind.

Eine resiliente Gesellschaft ist eine lernende Gesellschaft, die aus lernfähigen und -bereiten Individuen besteht. Status-Quo verliebte Gesellschaften hingegen werden zu den Verlierern des technologischen Wandels zählen und Wohlstandsverluste erfahren.

Wie wir vorankommen

Es bleibt die Frage, wie wir dem lebenslangen Lernen genug Raum geben können. Auf diese Frage gibt es keine einfache, aber eine pragmatische Antwort: Wir können unser Lernen in 70/20/10 Anteile aufteilen:

  • 70% der Lernens sollte on-the-job erfolgen, indem wir uns regelmäßig neuen Anforderungen stellen und an diesen wachsen. Die effektivste Formen des Lernens ist hier der Zustand der „leichten Überforderung“ im Arbeitsalltag. Dies setzt einen offenen Dialog zwischen Mitarbeitern und Führungskraft voraus, wie der Zustand dieser leichten Überforderung erreicht werden kann. (Und selbstverständlich die Bereitschaft der Individuen, diesen Zustand der Komfortzone vorzuziehen.)
  • 20% des Lernens kann auf das soziale Lernen – also das Lernen von anderen entfallen. Durch Gespräche mit Kollegen, Mitarbeitern, Partnern und Kunden und vor allem mit Menschen, die divers sind zu einem selbst.
  • Und 10% des Lernens findet off-the-job auf Basis gezielter Traningsmaßnahmen statt.

Wer auf dieser Basis sein Gehirn täglich ins Fitnesstudio schickt, trainiert den Muskel, den wir brauchen, den wir für gelingende Up- und Reskilling-Maßnahmen und lebenslanges Lernen benötigen.

Das Ergebnis von Lernen ist Bildung. Und Bildung manifestiert sich nicht in Noten, Abschlüssen und dem Gefühl des „Fortgeschrittenseins“, sondern im täglichen Fortschreiten. Letzteres brauchen wir mehr denn je.