Party Night regt zum Nachdenken an
Am vergangenen Wochenende habe ich mit Freunden bis tief in die warme Sommernacht gefeiert. Was am nächsten Morgen von der Party übrigblieb, war das sichere Gefühl, wie wichtig und wohltuend es ist, tiefe zwischenmenschliche Beziehungen zu pflegen, miteinander zu tanzen und zu lachen, vertrauensvolle Gespräche zu führen, einander mit Worten und Gesten zu berühren und gerade jene Teile unserer humanen Intelligenz zu stärken, die durch eine künstliche nicht zu ersetzen sind. Wir tragen zwar alle unsere Smartphones mit verschiedenen KI-Applikationen permanent mit uns herum und bewegen uns mehr als je zuvor in virtuellen Welten. Und doch sind wir soziale Wesen mit sozialen Bedürfnissen und sozialen Fähigkeiten geblieben und werden dies auch bleiben. Nun ist Technologie in Siebenmeilenstiefeln auf dem Vormarsch und ergänzt und beeinflusst unser Denken, unsere Kommunikation und Interaktion. Doch die 24/7 vernetzte Welt hat die meisten Menschen nicht verbundener gemacht. Wir achten zu wenig auf das, was uns als Menschen im Kern ausmacht. Es ist an der Zeit, dies zu ändern.
Vor dem Hintergrund dieser Eindrücke möchte ich diese Ausgabe meines Newsletters dem Fragenkomplex widmen: „Wie behält unsere menschliche Intelligenz im Zeitalter der künstlichen ihren Wert? Was sollten wir bewusst stärken, um in der Arbeitswelt der Zukunft auch zukünftig noch gebraucht zu werden? Wie differenzieren wir uns von einer immer klüger werdenden Maschinenintelligenz und schaffen aus der Kombination aus humaner und künstlicher Intelligenz eine komplementäre Superintelligenz? Und wie gelingt Augmented Thinking, indem wir unser menschliches Denken mit maschinellem Denken zusammenführen?“
Diese Fragen mögen theoretisch klingen, doch ihre praktische Relevanz wird sich bereits in naher Zukunft bemerkbar machen, wenn
- Technologie in Bereiche vordringt, die bislang uns Menschen vorbehalten waren,
- die zu lösenden Probleme und die Komplexität unserer Welt unsere menschliche Problemlösungsfähigkeit übersteigt.
Trends der Arbeitswelt der Zukunft
Als wir für die Partyvorbereitungen in der Küche standen und das abendliche Dinner zubereiteten, unterhielten wir uns darüber, dass es sich nach 9 Monaten mit ChatGPT inzwischen als ganz „normal“ anfühlt, eine generative künstliche Intelligenz die Party-Einladung graphisch entwerfen und den Einladungstext vorformulieren zu lassen. Schon in naher Zukunft wird es sich vermutlich ebenso „normal“ anfühlen, ein Foto von unserem Kühlschrankinhalt hochzuladen und von der KI auf dieser Basis konkrete Rezeptvorschläge generieren zu lassen, mit der Möglichkeit, den digital-vernetzten Kühlschrank die fehlenden Zutaten online bestellen zu lassen. Dies sind nur einfache Beispiele dafür, dass die unumkehrbare technologische Zeitenwende begonnen hat, die unser Leben im privaten und beruflichen Alltag nachhaltig verändern wird. Was wir bisher mit ChatGPT, DALL-E & Co. erlebt haben, ist nur das Warm-Up für eine neue Stufe der Leistungsfähigkeit neuer Technologien. Diese werden uns Menschen einerseits bei der Bewältigung unseres Alltags und unserer Herausforderungen unterstützen und andererseits in unserer beruflichen Existenz und Daseinsberechtigung herausfordern.
So dynamisch sich derzeit Technologien entwickeln und verlässliche Prognosen erschweren, so gelten doch folgende Trends für die Arbeitswelt der Zukunft als gesichert:
- Es wird branchen- und sektorenübergreifend zu einer neuen Aufgabenverteilung zwischen Mensch und Maschine kommen, die kontinuierlich neu zu bewerten ist.
- In vielen Tätigkeitsbereichen wird Technologie die menschliche Arbeitsleistung ergänzen, in bestimmten Tätigkeitsbereichen aber auch sukzessive ersetzen.
- Wer als Mensch kein Alleinstellungsmerkmal im Vergleich zu einer immer leistungsfähigeren Technologie vorweisen kann, läuft in Gefahr, substituiert zu werden.
- Menschen, die neue Technologien nicht anwenden können und sich dem Lernen verwehren, werden langfristig am Arbeitsmarkt schwer vermittelbar sein.
Laut einer Studie der Investmentbank Goldman Sachs können in den USA und Europa rund 300 Millionen Vollzeitarbeitsplätze durch KI ersetzt werden, d.h. bis zu 25 Prozent der derzeitigen Arbeitsplätze sind schon jetzt grundsätzlich substituierbar geworden. Dies betrifft Aufgabenbereiche von Sachbearbeitern, Assistenten, Verkäufern, Buchhaltern, Controllern, Juristen und Journalisten, aber auch kreative Tätigkeitsprofile wie Fotografen, Visagisten, Texter und Künstler. Ironischerweise lassen sich insbesondere auch Aufgaben von Softwareentwicklern, also Menschen, die eine künstliche Intelligenz entwickeln, durch künstliche Intelligenz gut ersetzen. Der Geist ist also aus der Flasche und wir werden uns sehr ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen müssen, was eigentlich unsere menschliche Intelligenz von der künstlichen unterscheidet und wie wir mit der künstlichen Intelligenz in einem diversen Team aus Mensch und Maschine stärkenbasiert zusammenarbeiten.
Um Antworten auf diese Fragen zu finden, lohnt es sich, die Funktionsweise unserer menschlichen Intelligenz näher zu betrachten.
Denken mit fünf Sinnen
Zunächst die gute Botschaft: Die menschliche Intelligenz ist trainierbar – und zwar bis ins hohe Alter. Sie ist jedoch auch an die biologischen Grenzen des Gehirns gebunden und nicht beliebig ausweitbar. Und menschliche Gehirne lassen sich nicht beliebig miteinander verknüpfen. Das Gehirn einer genialen Physikerin lässt sich bestenfalls durch gute und intensive Kommunikation mit dem Gehirn eines genialen Ethikers, eines genialen Historikers und einer genialen Informatikerin zusammenführen, aber nicht im Kopf verschmelzen. KI-Systeme hingegen können aufgrund ihrer digitalen Natur und der Möglichkeit, auf immer größere Rechenleistung und Speicherkapazität zuzugreifen, theoretisch unbegrenzt skaliert und damit mit einem täglich wachsenden Datenmeer trainiert werden. Zudem lassen sich fokussiert trainierte KI-Systeme miteinander verknüpfen und in ihrer Problemlösungskraft zusammenführen. Dies lässt KI-Systeme jeden Tag leistungsfähiger werden. Jede Intelligenz, die besser werden möchte, muss wachsen. Das gilt auch für unsere menschliche Intelligenz.
Die Art und Weise, wie KI-Systeme lernen, bedeutet aber nicht, dass die künstliche Intelligenz unserer menschlichen in jeder Hinsicht überlegen ist und gänzlich ohne sie auskommt. Im Gegenteil. Denn die rund 86 Milliarden Nervenzellen, die ein Homo Sapiens in seinem Gehirn besitzt, funktionieren nicht wie Schaltkreise in einem Computer; sie sind mehrdimensionalen, verschiedenen Einflüssen ausgesetzt, die als Informationen ins menschliche Gehirn eingespeist werden. Sinneseindrücke aus fünf unterschiedlichen Sinnen, Botenstoffe, vegetative Nervenimpulse und sogar Bakterien aus unserem Darm beeinflussen unsere Emotionen und unser Denken. Wir besitzen Intuition, Empathie und situatives Gespür, das von allen Sinneseindrucken gespeist wird und von einer rationalen Logik abweichen kann. Wir Menschen sind fühlende Wesen, wir haben ein Bewusstsein sowie einen moralischen Kompass. Wir haben ein menschliches Gehirn, das mit einem menschlichen Körper und all seinen Sinnen verbunden ist. Vor allem haben wir ein Herz, das andere Herzen berühren kann. All das hat eine künstliche Intelligenz nicht.
Wenn wir im Sinne einer komplementären Intelligenz denken, besteht großes Potenzial darin, dass wir Menschen gerade diese Facetten unserer humanen Intelligenz stärken und mit der datengetriebenen künstlichen Intelligenz zusammenführen. Das bedeutet, dass wir insbesondere unser „fühlendes Denken“ bewusst trainieren und ihren besonderen Wert erkennen müssen. Es geht darum, unsere Empathie für uns selbst und für andere im Alltag zu trainieren und anzuwenden. Es geht darum, unsere fünf Sinneswahrnehmungen zu schärfen und aufmerksam dafür zu sein, was sie uns zurückmelden. Es geht darum, in der Kommunikation und Interaktion mit anderen Menschen das Gegenüber ganzheitlich wahrzunehmen, unsere zwischenmenschlichen Antennen auszufahren und feinfühlig zu sein. Es geht darum, bestimmte Situationen ganzheitlich zu erfassen. Es geht darum, kritisch nachzufühlen, wenn einer unserer Sinne Zweifel anmeldet. Es geht darum, sich die Zeit zu nehmen, andere Herzen zu berühren und mit unseren Handlungen emotionalen Mehrwert zu stiften. Es geht darum, vertrauensvolle Beziehungen zu anderen aufzubauen und zu pflegen. Das sind bedeutsame soziale und emotionale Fähigkeiten, die Merkmale unserer humanen Intelligenz sind. Das zeichnet uns aus und in diesen Bereichen sind wir der Technologie überlegen. Diese Fähigkeiten und diese Art zu denken lassen sich sehr gut mit den analytischen, datengetriebenen Fähigkeiten einer künstlichen Intelligenz zu „augmented thinking“ zusammenführen.
Wenn wir jedoch im Alltag roboterhaft denken und handeln, zum Beispiel weil wir dauergestresst sind und sich unsere Wahrnehmung verengt, oder weil wir emotions- und teilnahmslos agieren, dann verpassen wir die Chance, das einzusetzen, was uns als Menschen von Technologie differenziert: Nämlich ein fühlendes Herz und ein denkendes Hirn, mit einem fühlenden Körper, die im Verbund arbeiten.
Fazit: Stärkung der menschlichen USP
Es ist an der Zeit, dass wir uns mit unserer menschlichen „USP„, also unserer Unique Selling Proposition, viel bewusster als bislang auseinandersetzen und eine ausgeprägte Teamfähigkeit mit Technologie entwickeln. Wir müssen zudem wegkommen vom Narrativ, dass Technologie den Menschen gänzlich ersetzen wird, sondern den Fokus der Diskussion mehr darauf legen, wie wir bestmöglich mit Technologie zusammenarbeiten und unsere Arbeit erleichtern können.
KI wird den Menschen mit ausgeprägter menschlicher Intelligenz nicht ablösen. Sie erweitert aber seine Fähigkeiten – wie Taschenrechner, Teleskope und Röntgengeräte.
Intelligenz ohne Gefühl ist ziemlich dumm. Daher braucht die künstliche Intelligenz die menschliche.